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Sind 30 Jahre zu kurz zum Aufholen?

Gute Jobs in der Heimat 

Sind 30 Jahre zu kurz zum Aufholen?

Mit der demografischen Entwicklung im Osten ging auch vielerorts die Schließung von Schulen einher. FOTO: ARCHIV/KRIMMER

Der morgige Feiertag bietet Politikern, Wirtschaftsvertretern und Wissenschaftlern Gelegenheit, Bilanz zu ziehen, wie die Deutsche Einheit nach 30 Jahren des Zusammenlebens in Ost und West vorangeschritten ist? Gibt es womöglich doch ein paar „blühende Landschaften“, wie sie Einheitskanzler Helmut Kohl zur Wiedervereinigung versprach und sie später eher als spöttisches Sinnbild für den Niedergang und Ausverkauf des Ostens interpretiert wurden?   

EINHEIT: Das Zusammenwachsen von Ost und West hat noch einige Hürden zu nehmen.

05.10.2020 12.00 Uhr

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Wie das BMW-Werk in Leipzig gelten auch die anderen sächsischen Standorte der Automobilfertigung als sogenannte Leuchttürme der ostdeutschen Wirtschaft. FOTO: ARCHIV/DPA

Lebensverhältnisse angeglichen

Dass es viele sogenannte Leuchttürme im Osten gibt, gilt inzwischen als unbestritten. Da ließen sich die modernen Automobilfertigungsstätten in Sachsen ebenso erwähnen wie die namhaften Forschungseinrichtungen in Halle oder Jena. Die Lebensverhältnisse in Ost und West haben sich in den zurückliegenden 30 Jahren vielfach angeglichen, sei es das Konsumangebot, die Gesundheitsversorgung, die Bemühungen im Umweltschutz, Jobangebote oder Bildung und kulturelles Leben. Dies zumindest in den sogenannten Metropolregionen und in einigen Großstädten.

Wirtschaft und Demografie

Andernorts sieht es nicht so rosig aus, was für den Osten festzustellen ist und in manchen westlichen Regionen als Schatten einer künftigen Entwicklung bereits zu erahnen ist. Die wirtschaftliche und die demografische Entwicklung verlaufen nicht selten parallel. Wo es an Arbeitsplätzen fehlt, fehlt es bald auch an Arbeitskräften und umgekehrt. Christian Hirte, ehemaliger Parlamentarischer Staatssekretär im Wirtschaftsministerium und Beauftragter der Bundesregierung für die neuen Bundesländer sagte dem Redaktionsnetzwerk Deutschland in einem Interview: „... dass vieles von dem, was wir in den neuen Bundesländern erleben, nur ein Vorspiel gesamtdeutscher Phänomene ist. Wir sind dem Westen 30 Jahre voraus – bei der Demografie oder bei gesellschaftlichen Prozessen...“ Hirte nennt in dem Interview als Beispiele konkreter Ost-West-Probleme die ungleiche Verteilung der Bundesbehörden, deutlich weniger im Osten als im Westen, sowie die Ungleichverteilung der Eliten: Die 25 Präsidenten der obersten ostdeutschen Gerichte kommen aus dem Westen, wird als Beispiel genannt.
      

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Die Eröffnung eines Proteinzentrums am Weinbergcampus in Halle hat die Forschungslandschaft in der Region gestärkt. FOTO: ARCHIV/DPA

75 Prozent der westlichen Wirtschaftskraft

Auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung liegt die Wirtschaftskraft des Ostens nur bei rund 75 Prozent von der des Westens. Wirtschaftswissenschaftler wie Joachim Ragnitz, Dresdner Geschäftsführer des Ifo-Instituts, wagt die These, dass 30 Jahre „ein zu kurzer Zeitraum sind, um regionale Wirtschaftskraftunterschiede abzubauen.“ Zum einen hat die westdeutsche Wirtschaft in drei Jahrzehnten kräftig zugelegt, zum anderen ging die ostdeutsche Wirtschaft in den ersten Nachwendejahren stärker in die Knie als damals zu erwarten war. Offiziellen Schätzungen zufolge verloren 80 Prozent der Ostdeutschen in den ersten fünf Jahren nach der Wiedervereinigung vorübergehend oder für immer ihren Job. Armut, Angst und Perspektivlosigkeit machten sich breit. Damals ergriff die Ostdeutschen, die sich in den alten Bundesländern ein neues Leben aufbauen wollten, eine ähnlich große Wanderungsbewegung wie vor dem Mauerbau 1961.

Fast ein Viertel der Ostdeutschen zog weg

Rund 3,7 Millionen Ostdeutsche siedelten bis 2017 in den Westen über, von dort kamen im Gegenzug 2,4 Millionen Menschen zu uns. In dem Jahr dann kehrten sich erstmals die Verhältnisse um und mehr Westdeutsche zogen in den Osten als umgekehrt. Mit dem Wegzug der jungen, motivierten und oft gut ausgebildeten Ostdeutschen gingen auch viele Strukturen hierzulande kaputt. Schulen, Krankenhäuser, Sport- und Freizeitanlagen und kulturelle Einrichtungen mussten schließen. Manche ländliche Gegenden vergreisen seitdem, die Überalterung der Bevölkerung nahm an Fahrt auf. Nur wenige Regionen wie die Großräume Leipzig-Halle oder Berlin-Potsdam profitieren ebenfalls von der Wanderungsbewegung und ziehen immer mehr Menschen und parallel dazu auch Investoren an, die für neue Arbeitsplätze sorgen.

Ein weiteres Indiz dafür, dass sich die Verhältnisse langsam zugunsten des Ostens bessern, sind neben der Umkehr der Hauptwanderungsrichtung die Geburtenzahlen. Gingen diese bis 1994 im Osten fast um die Hälfte zurück, sind sie hierzulande inzwischen wieder höher als in den alten Bundesländern.